Samstag:
 
 
 

Endlich hatte es aufgehört zu regnen. Trotzdem war kaum jemand rund um den Rheinauhafen unterwegs. Er musste unbedingt eine wichtige Entscheidung treffen. Und die frische Luft half ihm, einen klaren Kopf zu bekommen.

Langsam ging er die Bayenstraße entlang. Alles schien plötzlich gegen ihn zu sein. Es hatte sich im Laufe des Tages abgezeichnet. Und nun drohte die knappe E-Mail, die er eben gelesen hatte, das mühsam aufgebaute Kartenhaus endgültig einstürzen zu lassen. Doch er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, um seine Stellungnahme zu der neuen Entwicklung zu schreiben. Deshalb hatte er noch kurzfristig auf das Treffen gedrängt.

Die kleine Gittertür ganz in der Nähe vom Bayenturm war wieder offen. Meistens vergaß ein Anrainer der Agrippinawerft, das Tor am Abend wieder abzuschließen. Das ersparte ihm den Weg über den Haupteingang und unangenehme Fragen des Nachtwächters.

In der beginnenden Dämmerung sah er die Konturen einiger Laster vor den Lagerschuppen. Er schritt über die grasbewachsenen Gleise der stillgelegten Güterbahn und ging direkt auf das allein stehende Haus von Slahbohm & Mertens zu. Ein ungewöhnlicher Ort für eine Goldschmiede, dachte er immer wieder, wenn er die einsame Stelle erreichte. Er fand diesen Charme des Morbiden romantisch. Das letzte Mal war er mit Gaby hier gewesen. Gaby fand es eher unheimlich.

Er sah auf die Uhr. Halb zehn. Noch hatte er Zeit. Bei Maria im Büdchen an der Ecke hatte er sich noch schnell zwei Flaschen Früh geholt. Du siehst müde aus, hatte Maria gesagt. Maria war immer entwaffnend direkt. Dafür liebte er sie. Nicht umsonst war er einer ihrer treuesten Stammkunden. Du kannst ruhig später zahlen, hatte sie gesagt. Denn in der Eile hatte er seine Brieftasche in der Wohnung liegen gelassen.

Er kletterte vorsichtig über das alte gelbe Geländer. Die Steinquader der Kaimauer waren glatt. Er holte die beiden Flaschen Früh Kölsch aus der weißen Plastiktüte, stellte sie neben den gelben Doppelpoller, faltete die Tüte doppelt und legte sie auf den kalten Stahl. Vorsichtig setzte er sich drauf.

Es roch brackig. Träge floss der Rhein unter der Severinsbrücke hindurch. Nur an dieser Stelle war es möglich, auf einem schmalen Grat direkt am Rhein zu sitzen. Das allerdings war nicht ungefährlich. Irgendwann hatten die neuen Investoren im Rheinauhafen das gesamte Gelände mit einem hohen verchromten Stahlgeländer eingezäunt. Direkt an der Kante der Kaimauer. Wahrscheinlich hatten sie Angst, dass ein Spaziergänger oder ein Betrunkener in den Rhein fallen würde.

Er nahm den Schlüsselbund mit dem Flaschenöffner aus seiner Hosentasche. Von manchen alten Angewohnheiten würde er sich nie trennen. Er hebelte den Kronkorken ab und legte den Schlüsselbund neben die zweite Flasche. Aber es schmeckte schon nicht mehr richtig. Den ganzen Abend hatte er in der Südstadt Handzettel verteilt und nebenbei immer noch schnell ein Kölsch getrunken. Dann holte er aus seinem silberfarbenen Etui noch einen Zigarillo von Pfeifen Heinrichs heraus, steckte ihn an, zog genüsslich den Rauch ein und blickte auf die Kölnarena.

Bis heute war alles nach Plan gelaufen.

Er dachte an den zurückliegenden Tag. Der Theaterbummel auf der Schildergasse war ein erster Teilerfolg gewesen. Die ehemaligen Kollegen waren wirklich überrascht gewesen, seinen Stand tatsächlich gegenüber dem Café Riese zu sehen. Natürlich war es ihm nicht gelungen, seinen Coup bis zu diesem Termin wirklich geheim zu halten. Das war unmöglich in einer geschwätzigen Stadt wie Köln. Aber die meisten Kollegen hatten schlicht nicht daran geglaubt, dass er es auch tatsächlich wagen würde.

Er hatte sein Poster an die Stellwand geklebt und die Handzettel auf dem Tisch ausgelegt. Ein guter Platz. Als es angefangen hatte zu regnen, konnte er drinnen Kaffee trinken und trotzdem den Stand weiter beobachten. Die Stimmung war wetterbedingt schlecht gewesen. In der allgemeinen Hektik zwischen den Wolkenbrüchen war kaum jemand stehen geblieben, um sich Ausschnitte aus irgendwelchen Theaterstücken anzusehen.

Aber er hatte sich nicht gescheut, die vorbeieilenden Passanten anzusprechen oder ihnen einfach ein paar Handzettel in ihre prall gefüllten Einkaufstaschen zu stecken. Das war allerdings in den meisten Fällen vergebliche Liebesmüh gewesen. Ob seine Werbung jetzt hundert Meter weiter oder erst in Chorweiler oder Ossendorf im Mülleimer landen würde, machte bei der Menge auch keinen gravierenden Unterschied mehr aus. Schwund ist immer.

Sein Projekt war die Sensation der ganzen Veranstaltung gewesen.

Sogar die Schnelle Rheinzeitung hatte bereits darüber berichtet.

Ein neues Theater in Köln.

Das Theater an der Ulrepforte.

Ein modernes, ebenerdiges Theater mit 200 Plätzen und einem gemütlichen Bistro mit netten, jungen, attraktiven und freundlichen Bedienungen. Keine Karoline Kaimann.

Der Standort war einfach ideal. Eine Straßenbahnhaltestelle auf dem Ring praktisch direkt vor der Tür. Nicht weit weg vom Chlodwigplatz und der Südstadt. Aber noch viel besser. Fast achtzig Parkplätze genau nebenan. Die hatte er als erstes für sein Theater reservieren lassen, um auch die Kollegen vom Keller und Sachsenring zu ärgern. Viele Theaterbesucher in Köln holten ihre reservierten Karten viel zu spät ab, weil sie keinen Parkplatz finden konnten. Oft genug stürmten nassgeschwitzte Männer eine Viertelstunde nach Vorstellungsbeginn leise fluchend in den Saal und quetschten sich auf der Suche nach ihren Frauen oder Freundinnen durch die engen Stuhlreihen. Falls die überhaupt einen Platz frei gehalten hatten.

In vier Wochen sollte die Premiere sein.

„Ausverkauft“.

Das war einfach der Knaller. Zum Glück hatte er noch die Kontaktadresse der Londoner Lost Theatre Company gehabt, die vor fünfzehn Jahren auf dem Edinburgher Fringe Festival mit dem frechen Theaterstück „Sold Out“ einen Sensationserfolg gelandet hatte. Er hatte sich nicht nur die Erstaufführungsrechte an der Komödie gesichert, sondern auch die Freiheit, den Text zu aktualisieren und den kulturellen und sprachlichen Gegebenheiten in Deutschland anzupassen. Nicht nur eine reine Übersetzung zu machen, bei der allein der Autor Ruhm, Ehre und die Kritiken einheimsen würde.

Die englische Vorlage war schon gut. Aber die deutsche Fassung erst recht.v Das Theater an der Ulrepforte spielt ein zeitkritisches Stück über eine schlagkräftige Gruppe von Globalisierungsgegnern, die sich auf den nächsten Weltwirtschaftsgipfel vorbereitet. Leider will kaum jemand das Stück sehen. Selbst für den Samstagabend gibt es nur wenige Vorbestellungen. Zufällig trifft der Techniker des Theaters, ein in Köln geborener Albaner mit einjähriger ABM-Stelle, den Parteivorsitzenden der Grünen aus dem Bezirk Altstadt-Mitte. Der wollte eigentlich nach der außerordentlichen Fraktionssitzung mit seiner Mannschaft in die Nachmittagsvorstellung des Musicals „Saturday Night Fever“ im Musical Dome, hatte aber so kurzfristig keine Karten mehr bekommen. Nun ertränkt die bunte Truppe ihren Frust beim Früh im Veedel.

Kein Problem, sagt der Techniker an der Theke. Wir machen auch ein Musical. Sogar ein politisches. „Globale Angst“. Es gibt auch noch ein paar Restkarten. Der Grüne ist völlig begeistert über die unerwartete Alternative. Sofort rennt der Techniker ins Theater an der Ulrepforte und informiert die schlecht gelaunten Schauspieler, deren Gage ausschließlich von der Zahl der Besucher abhängt. Die gute Nachricht: Heute Abend sind wir ausverkauft. Allerdings müsst ihr ab sofort alle singen.

Unwillkürlich musste er an das Festival in Edinburgh zurückdenken. Drei Wochen war das kleine Theater auf der Goldenen Meile tatsächlich ausverkauft. Und natürlich hatte er sich die Schlangen vor der Tür auch schon für das Theater an der -Ulrepforte ausgemalt. Vielleicht nicht ganz so laut wie mit einem nackten und schwulen Jesus auf der Bühne, dafür deutlich weniger Ärger mit dem Oberbürgermeister. Außerdem war das Stück besser geschrieben. Und natürlich übersetzt.

Von der Stadt Revue, der Kölner Illustrierten, der Schnellen Rheinzeitung bis hin zur Veranstaltungsbeilage im Stadt-Anzeiger würde nur „Ausverkauft“ in der Spalte für das Theater an der Ulrepforte stehen. Ein schöner PR-Trick. Der Erfolg eines Stückes hängt nicht nur davon ab, ob es wirklich gut ist, sondern wie viele Leute ins Theater rennen. Oder ob andere Leute glauben, dass viele Leute ins Theater rennen. Was ausverkauft ist, muss auch gut sein.

Er zog den letzten übrig gebliebenen Handzettel aus der Innentasche seiner Lederjacke. Sein genialer Grafiker hatte den gesamten Weltschmerz der Neuzeit in eine sehr ansprechende Zeichnung gepackt. Der eigentliche Titel relativ klein: „Globale Angst“. Darüber groß und fett, auf den ersten Blick wie ein Aufkleber: „Ausverkauft“. Zweifarbig. Schwarz und rot. Seine Lieblingsfarben. Das war im Druck nicht ganz so teuer. Die Schauspieler fanden ihn gut. Gaby auch. Das war ihm sehr wichtig. Gaby hatte ihn am meisten in seinem Vorhaben bestärkt.

Er hatte einen Regisseur gefunden, der schon in der Comedia und im Bauturm ein paar erfolgreiche Komödien inszeniert hatte. Und er hatte die vier besten freien Schauspieler in Köln von seinem Projekt überzeugt. Die Proben hatten bereits letzte Woche begonnen.

Er steckte den Handzettel wieder ein, trank die erste Flasche leer und stellte sie neben den Poller. Langsam merkte er das Kölsch. Aber die laue Septemberluft hielt ihn bei Sinnen. Er atmete tief durch und sah sich um. Es war ruhig im Rheinauhafen. In der Ferne strahlte grün der Dom. Das Schokoladenmuseum warf sein blaues Licht ins Wasser.

Er sah in die Tiefe. Unter sich konnte er die Umrisse eines Kohleschiffes ausmachen. Was die wohl am Samstag hier machen, fragte er sich. Hier ist doch gar kein richtiger Hafen mehr. In der Kajüte am Heck brannte kein Licht. Wahrscheinlich war der Kapitän ein Bier trinken. Er blicke sich um. Kein Mensch war zu sehen. Gleich war das Treffen. Maria würde die zweite Flasche Kölsch sicher zurücknehmen. Er würde im Stollwerck lieber noch ein frisches Kölsch trinken.

Plötzlich schreckte er hoch, weil er meinte, ein Geräusch vernommen zu haben. Nichts. Nur einige unheimliche Schatten im fahlen Licht der Laternen. Die vielen Auseinandersetzungen über den ganzen Tag hatten ihn wahrscheinlich ein wenig nervös gemacht.

Er hasste es, die Kontrolle über die Ereignisse zu verlieren.

Denn er wollte nicht scheitern. Nicht nach all den Jahren. Nicht jetzt.

Deshalb musste er Position beziehen. Und er musste den Entwicklungen zuvorkommen. Er wollte nicht noch weitere unruhige Tage in Ungewissheit verbringen.

Er drückte den Zigarillo aus und atmete tief durch.

Dann hatte er sich entschieden.

Er holte sein Handy aus der Tasche, wählte eine Nummer aus dem Speicher und wartete, bis er die weit entfernte Stimme hörte.

„Ich habe es mir überlegt“, sagte er betont hart. „Ich lasse mir meine Arbeit von dir nicht einfach so zerstören.“

Er machte eine Pause, um der stillen Drohung im virtuellen Raum eine größere Wirkung zu verleihen.

„Du kannst es drehen und wenden wie du willst. Aber du kommst aus der Sache nicht mehr raus.“

Keine Antwort. Die Leitung schien tot. Eine Straßenbahn fuhr laut scheppernd über die Severinsbrücke.

Er drückte noch einmal die grüne Taste. Er hasste es, wenn er keine Antwort bekam.

„Ich mach dich fertig“, schrie er in den Apparat. Seine Wut, gemischt mit Ohnmacht, nahm zu.

„Hörst du? Ich mach dich einfach fertig. Du kriegst in Köln keinen Boden mehr unter die Füße. Genau wie der andere Idiot, der meint, mich jetzt noch aufhalten zu können. Soll ich dir sagen, was der vor hat? Soll ich es dir sagen? Das ist wirklich unglaublich!“

„Leck mich am Arsch!“, kam es zurück. Rotzfrech so dahingeworfen.

Er sprang auf. Beinahe wäre er auf den glatten Steinen ausgeglitten. Plötzlich hörte er hinter sich Schritte und erschrak. Bevor er sich umdrehen konnte, bekam er einen Stoß ins Kreuz.

Er kam ins Straucheln, rutschte weg und schlug seitlich mit dem Kopf gegen den Poller. Das Handy entglitt ihm und fiel ins Wasser.

Plopp.

Er war benommen. Seine Beine rutschten langsam über die Mauer. Verzweifelt versuchte er, sich festzuhalten. Fassungslos blickte er nach oben und erkannte schemenhaft das vertraute Gesicht mit seinem hämischen Grinsen. Doch er konnte keinen Halt finden und hatte noch nicht einmal die Kraft für einen Schrei.

Dann stürzte er ins Bodenlose.

Er traf mit dem Genick genau die Bordkante des Kohleschiffes und war auf der Stelle tot.

Der leblose Körper rutschte in die Lücke zwischen Kahn und Kaimauer.

 
 


© 21.8.2002 Jan Bergrath
Nachdruck nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.
 
   
< zurück